Die Bedeutung taktiler Bilderbücher im Schriftspracherwerb blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder: Kriterien aus Sicht der Eltern Einleitung: Obwohl Tastbilderbüchern im Schriftspracherwerb blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder eine zentrale Bedeutung zukommt, ist der Umfang des Gesamtangebots bisher überschaubar. Erschwerend hinzu kommt, dass viele Tastbilderbücher pädagogisch und qualitativ zweifelhaft sind. (Lang, 2014, S. 117) Um das bestehende Angebot taktiler Bilderbücher für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder ausbauen und auf die Bedürfnisse der Familien abstimmen zu können, beschäftigte sich die vorgestellte Arbeit schwerpunktmäßig mit der Frage, ob bisher angenommene Qualitätskriterien der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik auch die Erwartungen der Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder abbilden. Methode: Zu diesem Zweck wurde eine quantitative Studie mit explorativem Forschungsinteresse angelegt. Beim Erhebungsinstrument handelte es sich um einen elektronischen Fragebogen, der von 17 Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder bearbeitet wurde. Die Ergebnisanalyse und -auswertung erfolgte deskriptivstatistisch unter Verwendung von Visualisierungstechniken. Zunächst fand ein Mittelwertvergleich statt, um die einzelnen Qualitätskriterien sowie die vier übergeordneten Gestaltungsbereiche "Aufbau", "Schrift, "(Be-)Greifen" und "Abbildungen" in eine Rangfolge bringen zu können. In einem zweiten Schritt wurden dann relevante Gruppenunterschiede untersucht. Die Stichprobe wurde zu diesem Zweck jeweils in die Gruppen "Eltern blinder Kinder" (n = 14) und "Eltern hochgradig sehbehinderter Kinder" sowie "Eltern von Kindern ohne zusätzliche Beeinträchtigung" (n = 14) und "Eltern von Kindern mit zusätzlicher Beeinträchtigung" eingeteilt. Ergebnisse: Bevor die Ergebnisse vorgestellt werden, soll an dieser Stelle auf die Limitationen der vorgestellten Studie verwiesen werden. Zum einen handelte es sich um eine kleine Stichprobe von 17 Proband*innen, die keinesfalls den gesamten, sehr heterogenen Personenkreis der Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder abbilden kann. Zum anderen war die Zusammensetzung der Gesamtstichprobe nicht ausgeglichen, da die Eltern blinder Kinder (n = 14) im Vergleich zu den Eltern hochgradig sehbehinderter Kinder (n = 3) deutlich überwogen. Gleiches gilt für das Verhältnis zwischen Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder ohne zusätzliche Beeinträchtigung (n = 14) und Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder mit zusätzlicher Beeinträchtigung (n = 3). Positiv anzumerken ist, dass kein in der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik angenommenes Qualitätskriterium von den Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder als „unwichtig“ eingeschätzt wurde. Gestaltungsmerkmale aus dem Bereich „Schrift“ haben einen Mittelwert von mindestens 2,94 und sind den Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder damit durchgehend eher wichtig oder sehr wichtig. Gruppenübergreifend werden lediglich zwei Qualitätskriterien als eher unwichtig eingeschätzt (19, 20). Alle anderen von der Gesamtstichprobe als eher unwichtig eingeschätzten Kriterien scheinen hingegen für eine der Untergruppen von größerer Bedeutung zu sein. Die nachfolgende Auflistung gibt einen Überblick über die Gesamtrangfolge der Qualitätskriterien aus der Perspektive der Eltern blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder: Sehr wichtige Qualitätskriterien: 1. Bereich Schrift: Texte im Buch sind in Braille- und Schwarzschrift zugänglich. (M = 3,94) 2. Bereich Aufbau: Seiten, Bilder und Texte sind stabil und widerstandsfähig. (M = 3,82) 3. Bereich Abbildungen: Das Buch ist haptisch attraktiv. (M = 3,76) 4. Bereich Abbildungen: Im Buch werden verschiedene Materialien verwendet. (M = 3,65) 5. Bereich Abbildungen: Die verwendeten Materialien weisen eine Affinität/Texturähnlichkeit zu den dargestellten Objekten auf. (M = 3,59) Bereich Schrift: Das Ertasten taktiler Abbildungen wird durch die Beschriftung nicht beeinträchtigt. (M = 3,59) 6. Bereich (Be-)Greifen Das Buch bietet Fördermöglichkeiten in den Bereichen Punktschrifterfahrung und Lesevorbereitung. (M = 3,53) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch bietet Fördermöglichkeiten im Bereich Kognition. (M = 3,53) Eher wichtige Qualitätskriterien: 7. Bereich Abbildungen: Objekte werden in originalgetreuer Form wiedergegeben. (M = 3,47) 8. Bereich Abbildungen: Darstellungen sind an das Alter und die Erfahrungen des Kindes angepasst. (M = 3,41) 9. Bereich Schrift: Braille- und Schwarzschrift werden so dargeboten, dass eine direkte Zuordnung von Braille- und Schwarzschrift erfolgen kann. (M = 3,35) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch bietet Fördermöglichkeiten im Bereich Feinmotorik, Kraft und Taststrategien. (M = 3,35) 10. Bereich (Be-)Greifen: Inhalte des Buches sind an der Lebenswelt des Kindes orientiert. (M = 3,29) Bereich Abbildungen: Bilder im Buch werden auf die wesentlichsten Elemente beschränkt. (M = 3,29) 11. Bereich (Be-)Greifen: Das Buch enthält Elemente zum Hören. (M = 3,24) 12. Bereich (Be-)Greifen: Im Buch werden Möglichkeiten eröffnet, die Geschichte mitzuspielen. (M = 3,18) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch bietet Fördermöglichkeiten im Bereich der Begriffsbildung. (M = 3,18) Bereich Abbildungen: Objekte im Buch werden immer in der typischen Perspektive dargestellt. (M = 3,18) 13. Bereich (Be-)Greifen: Das Buch bietet Fördermöglichkeiten im Bereich Kommunikations- und Sprachentwicklung. (M = 3,12) 14. Bereich Schrift: Schrift wird in Bilder integriert. (M = 3) Bereich Schrift: Mit Hilfe anheftbarer Buchstaben können Aufgaben bearbeitet und Variationsmöglichkeiten geschaffen werden. (M = 3) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch enthält viele bewegliche Elemente. (M = 3) Bereich Abbildungen: Das Buch enthält Realobjekte. (M = 3) Bereich Abbildungen: Das Buch ist visuell attraktiv. (M = 3) 15. Bereich Schrift: Im Buch gibt es eine klare Aufteilung von Text und taktilen Abbildungen. (M = 2,94) 16. Bereich Aufbau: Seitenzahlen sind taktil und visuell erfassbar. (M = 2,76) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch verfügt über herausnehmbare Gegenstände. (M = 2,76) Bereich Abbildungen: Die zu tastende Fläche ist nicht größer als der Handtastraum. (M = 2,76) Eher unwichtige Qualitätskriterien 17. Bereich Abbildungen: Die Farbgestaltung des Buches ist kontrastreich. (M = 2,47) 18. Bereich Aufbau: Seiten, Bilder und Texte sind (möglichst) abwaschbar. (M = 2,35) Bereich (Be-)Greifen: Das Buch enthält Elemente zum Riechen. (M = 2,35) 19. Bereich Aufbau: Seitenzahlen werden im Buch einheitlich und kontinuierlich angegeben. (M = 2,29) 20. Bereich (Be-)Greifen: Das Buch enthält Elemente zum Schmecken. (M = 2,06) 21. Bereich Aufbau: Die Seiten des Buches sind herausnehmbar. (M = 1,94) Schlussfolgerungen: Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass innerhalb der Blinden- und Sehbehindertenpädagogik das entsprechende Wissen vorhanden ist, um die Erwartungen der Familien blinder und hochgradig sehbehinderter Kinder bzgl. taktiler Bilderbücher zu erfüllen. In Kombination mit der Gewichtung der Qualitätskriterien aus der Perspektive der Eltern sind damit die Voraussetzungen gegeben, in Zukunft mehr qualitativ hochwertige Tastbilderbücher für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder herzustellen. Angaben der Eltern zu Lieblingsbüchern ihrer Kinder verdeutlichen, dass das derzeitige Angebot qualitativ hochwertiger Tastbilderbücher für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder den Erwartungen der Familien nicht gerecht wird. Die Herstellung attraktiver, taktiler Bilderbücher für blinde und hochgradig sehbehinderte Kinder sollte jedoch als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einer inklusiven Gesellschaft betrachtet werden. Kinderbücher könnten i. S. d. „Universal Design“ von Beginn an so konzipiert werden, „dass sie von allen Menschen möglichst weitgehend ohne Anpassung oder ein spezielles Design genutzt werden können“ (Bundesgesetzblatt, 2008, S. 1424), um das Angebot zugänglicher Bücher zu erhöhen und i. S. d. Inklusion ein gemeinsames Bucherleben zu ermöglichen. Gleichzeitig könnten die erarbeiteten Gruppenunterschiede genutzt werden, um weiterhin auch taktile Bilderbücher herzustellen, die sich spezifischen Zielgruppen widmen.